Die Bahn

Ich habe seit drei Monaten einen Job. Jeden Tag mit der S-Bahn hin und jeden Abend wieder zurück. Wie immer wühle ich mich durch die verschlafene Menge. Keiner nimmt Rücksicht auf mich, also ich auch nicht auf die anderen. Jeder sieht mich kurz an, um dann wieder wegzuschauen. Müde, verärgert, missbilligend oder einfach nur schauend sind die Blicke. Meine und eure. Keiner interessiert sich groß für den anderen. Endlich erobere ich einen Sitzplatz. Als ich meinen MP3-Player angeschaltet habe und endlich entspannt aufschaue, sehe ich dich.

Du sitzt mir direkt gegenüber. Genau so, dass ich so tun kann, als ob ich einfach müde durch dich hindurchschaue, obwohl ich dich genau mustere. Natürlich versuche ich das möglichst unauffällig zu machen. In unserer Generation macht man seine wahren Empfindungen ja nicht mehr sichtbar. Man bleibt immer damit schön hinter dem Licht oder vielleicht noch besser hinter dem Mond. Wir wollen verstanden werden, ohne groß etwas zu sagen. Wir wollen gesehen werden, ohne großen Aufwand dafür betreiben zu müssen. Manche sollen sogar lieber schreiben wollen, als in Echt und in der Realität mit jemandem zu reden.

Also nehme ich keinen Kontakt zu dir auf, sondern denke verborgen in mir weiter. Ich will ja schließlich die Erwartungen an mich erfüllen. Also spinne ich lieber für mich eine Geschichte, ohne sie zu durchleben. Also mal sehen: Wie siehst du ei-gentlich aus? In meinen Augen bist du ein hübsches Kerlchen. Genau das richtige Alter. Ungefähr meines plus ein, zwei Jahre, die ihr Männer, uns Frauen, sowieso hinterher seid. Du hast ein Aussehen, dass ich unglaublich sexy und anziehend finde. Deine Hose und Jacke sagen mir, du bist sportlich. Dein Hemd lässt Anstän-digkeit und eine gute Erziehung erahnen. Auch dein Deo oder Parfüm weht zu mir herüber, so dass es meine positive Bewertung von dir noch mehr unterstreicht. So fange ich an in meinen Gedanken durchzuspielen, wie es wäre, wenn es wäre. 

Wenn ich dich jetzt ansprechen würde, bist du vielleicht der, der mich zum Lachen bringt. Du würdest richtig gute Witze kennen. Du wärest der Rhetorik mächtig. Es wäre nicht so, dass ich dieses übertriebene Lachen zeigen müsste, das einem über die Lippen kommt, wenn man versuchen möchte, etwas witzig zu finden, obwohl es einfach gar nicht komisch ist. Ja, das ist ja so witzig, aber eigentlich wusste ich schon beim ersten Date, dass es nichts wird. Ha. Ha. Ha. So oft musste ich es schon benutzen. Nein, es wäre mein echtes Lachen, weil ich es genießen würde mit dir zusammen zu sein. Wir würden uns so gut verstehen, wie mir es noch nie mit jemandem passiert ist. Du würdest mein Leben bereichern. Mich immer aufmun-tern, wenn etwas schief läuft. Wir könnten auch ohne Worte miteinander reden.

Vielleicht wärst du auch einer, der mich zum Weinen bringen würde. Du würdest mich lieben, um mich dann zu verletzen. Ich hätte dieses Gefühl noch nie zuvor gespürt. Du wärst der einzige mit dem ich zusammen sein will. Du würdest das auch wollen, aber schließlich hättest du mich sehr verletzt und dann würde alles zusam-menbrechen. Mit einer anderen Frau hättest du mich betrogen. Es wäre unfassbar. Du und ich kein Paar mehr. Undenkbar für alle. Doch es wäre dann so. Ich hätte dann eine Narbe. Nicht sichtbar, aber im Herzen. Oder du würdest mich von Anfang an verletzen. Dann gäbe es aber wahrscheinlich keinen Stoff für eine ganze Ge-schichte.

Wenn ich dich jetzt ansprechen würde, wärst du vielleicht mein bester Kumpel. Irgendwann. Durch dick und dünn würden wir gehen. Nichts käme zwischen uns. Wenn ich heiraten würde, würdest du mich zum Altar führen. Wir würden immer, wenn es etwas zu besprechen gäbe, in einer Kneipe etwas trinken gehen. Ich würde auf deine Kinder aufpassen. Du würdest auf mich aufpassen. Du wärest der große Bruder, den ich nie hatte. Ich wäre die einzige Frau, die dich nicht zur Weiß-glut treiben würde. Andere würden uns mit dem Spruch „ihr altes Ehepaar“ veräppeln. Uns würde das nicht stören. Wir würden miteinander reisen. Würden zusam-men neue Leute treffen, neue Sachen erleben. Unsere Unternehmenslust wäre nie zu stillen, weil wir um die sichere Basis beim jeweils anderen wüssten.

Ganz vielleicht wärst du der Eine. Der, der in den Kontakten keinen Namen braucht, weil man ihn schon so oft ausgesprochen hat. Der bei dem ohne großes Zutun alles in die gute Richtung läuft. Vielleicht wärst du mein Happy-End, das viel besser ist, als die in den Filmen, weil es echt wäre. Wirkliche Gefühle, wirkliche Liebe.

Plötzlich sehe nicht nur ich dich an, sondern du auch mich. Mit Interesse lächelst du mich an. Ich weiß, dass meine Gedanken irgendwie nicht unbemerkt an dir vorübergegangen sind und du scheinst auch welche an mich verschwendet zu haben. Langsam stehst du auf. Wendest dich mir zu. Du willst dich vorstellen. Du willst diese Geschichte beginnen. Du willst herausfinden, wer du in meiner Geschichte sein wirst. Du willst die Gedanken in Taten verwandeln und nicht länger nur im Konjunktiv existieren.
 
Da hält die Bahn an und ich springe wie von der Tarantel gestochen heraus. Es sind eigentlich noch zwei Haltestellen, die ich mit der S-Bahn fahren müsste. Ich laufe sie. Wahrscheinlich komme ich zu spät zur Arbeit. Aber es ist mir egal. Heute gibt es Wichtigeres. Denn manchmal muss man träumen können, ohne von der Wirklichkeit eingeholt zu werden. Hätte ich auf dich gewartet, hätte ich gewusst, wer du bist. Ob Liebhaber, Kumpel oder doch Arsch. Das will ich nicht. Ich will es nicht wissen. Nie.

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